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Nordwärts

Vom Leben in Skelleftehamn

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#cresum14

Was anderen das Weihnachtsfest, der Geburtstag oder die Silvesternacht ist, ist mir der Creative Summit in Skellefteå. Zum fünften Mal saß ich vorgestern und gestern in einem der roten Klappstühle des Nordanåtheaters, hörte den Rednern zu und dachte: Wieder ein Jahr vorbei. Denn als ich 2010 das erste Mal dabei war, lebte ich gerade sechs Wochen in Schweden, jetzt sind es über vier Jahre.

Creative Summit 2014

Gestern Abend war wieder die traditionelle Party bei uns in den Büroräumen, wie jedes Jahr nach dem Creative Summit. Doch dieses Jahr war wenig los, denn die überschaubare Gruppe, die noch übrig war, drängte sich in einem der Büros vor der Leinwand, um der Liveübertragung der Fußballweltmeisterschaft beizuwohnen. Die anderen schauten vermutlich zu Hause. Nur ein Dreiergrüppchen verweigerte sich standhaft dem WM-Spektakel: Ein Finne, eine Italienerin und ich, den Fußball ähnlich wenig wie Synchronschwimmen interessiert. Aber zwei neue nette Menschen treffen und Zeit und Ruhe zum Kennenlernen haben, ist ja auch richtig schön und mehr, als so manche andere Party bieten kann.

Jetzt, am Tag danach, sitze ich zu Hause vor dem Rechner und sollte arbeiten. Aber ich bin ganz schön platt von den letzten zwei Tagen. Viel schaffe ich wohl nicht heute.

Sommerpaddeln

Wie soll ich es bitte schön schaffen, noch drei Wochen zu arbeiten, wenn sich alles jetzt schon so schön sommerig anfühlt. Wenn die Schweden nur noch Bilder von Booten und Sommerhäusern posten und sich die Gesprächsthemen nur noch um das schöne Wetter oder eventuelle Urlaubspläne drehen.

Aber – es hilft nichts, drei Wochen muss ich noch durchhalten, ehe Hello Future in die Sommerpause geht und ich vier Wochen frei habe. Heute hatte ich schon einen kleinen Vorgeschmack: Eine kleine Paddeltour. Aber nicht wie vor zehn Tagen mit Handschuhen, Mütze und Trockenanzug, sondern barfuß und mit T-Shirt (und Schwimmweste). Was für ein herrlicher Kontrast. Ein bisschen vor mich hinträumend paddelte ich gemütlich vorwärts oder ließ mich treiben. Es ist absolut unvorstellbar, dass hier im Winter alles dick zugefroren ist. Überhaupt – Winter, was ist das? Doch nicht hier? In Sommerschweden?

Als ich nach der Tour wieder an Land wollte, musste ich aufpassen, dass ich keinen mit meinem Kajak überfahre, denn zwei Familien badeten im Wasser. Wenige Minuten später planschte auch ich in Badehose im kühlen Wasser der Ostsee. Mein erstes Sommerbaden – herrlich!

Quellwolken über dem LandUnter- und Überwasser

Schwedischer Nationaltag

Gestern war der 6. Juni, das ist der schwedische Nationalfeiertag. Im Gegensatz zum 17. Mai in Norwegen wird der aber eher ruhig angegangen. Natürlich ist hier und dort eine Flagge gehisst, aber das war es dann auch schon. Glaube ich zumindest.

Gestern war ich mit dem Auto unterwegs und der kurvige Kiesweg, den ich von Kåge aus genommen habe, hat mich schon halb nach Kusfors geführt, wo Lasse und Martine leben. Die waren aber nicht zu Hause, sondern in Norsjö, um dort für das Dorf Kusfors den Preis „Årets by“ – Dorf des Jahres – der Kommune entgegenzunehmen. Ich bin deswegen über kleine Nebenwege (Åliden – Stöverfors – Krångfors – Finnfors – Bastuträsk) nach Norsjö gefahren, um mich dort mit meinen Freunden zu treffen und bin mitten in die Nationaltagsfeier geplumpst.

Dies hätte fast ein x-beliebiges Sommerfest sein können, mit Hüpfburg, Rede, Fika für alle (die kalten Getränke waren eine willkommene Erfrischung bei 27 °C) und Preisverleihung. Einige liefen tatsächlich in Tracht umher, aber das waren vermutlich die Mitglieder der Volkstanztruppe, deren Aufführung ich verpasst habe. Doch zwei Dinge waren schon ein bisschen nationalfeierig. Zum einen wurde die Nationalhymne gesungen. Das habe ich in Schweden noch nie erlebt. Aber weil ein Sänger am Mikrophon laut vorsang, hatte ich den Eindruck, dass die Schweden eher ein bisschen mitmurmelten, anstatt inbrünstig mitzuschmettern. Und dann die Flaggen: Die große Flagge war gehisst, an den alten Häusern wehten die Flaggen und auch die Tortenstückchen waren mit kleinen Schwedenflaggen geschmückt. Das sieht schön aus, denn die blau-gelben Flaggen fügen schöne, bunte Farbtupfer zu den frühlingsgrünen Birken und den roten Holzhäusern hinzu.

Fika: Kaffe und KuchenDie schwedische Flagge ist gehisst

Die Schweden sind angenehm integrierend, was den Nationaltag angeht: Nicht nur Volkstänze sind gezeigt worden, sondern auch Tänze aus Afrika (habe ich ebenfalls verpasst) – immerhin leben in Norsjö auch viel Zugezogene aus vielen verschiedenen Ländern. Und an der Hauptstraße hingen nicht nur schwedische, sondern auch dänische, norwegische und finnische Flaggen.


Anschließend haben wir noch Freunde von Lasse und Martine besucht und uns anschließend ein altes Gehöft angeschaut, welches seit 30 Jahren unbewohnt ist. Eine Traumlage direkt am Fluss, aber wer diese Häuser wieder komfortabel bewohnbar machen möchte, hat viel Arbeit vor sich. Für mich, der sich zum einen in Skelleftehamn sehr wohl fühlt und zum anderen kaum einen Nagel gerade einschlagen kann, wäre das nichts.

Verlassenes Haus …… auf großem Grundstück direkt am Fluss

Bis spätabends saßen wir dann noch draußen in Kusfors, bis wir irgendwann vor den Mücken nach drinnen geflohen sind, denn jetzt geht es langsam los mit dem Gesirre und Gepiekse diese kleinen Plagegeister.

Nebelbänke

Als ich heute mit dem Auto den „Näsuddsvägen“ langgefahren bin, habe ich mich gewundert. Blauer Himmel und Sonne, aber wo ist denn die Insel Gåsören mit ihrem markanten kleinen Leuchtturm geblieben? Ach dort hinten, fast im Nebel verschwunden.

Fünf Minuten später war ich an der Lotsenstation und habe den kleinen Seenebelbänken zugeschaut, die fast wie große Geisterquallen über der Ostsee entlang trieben.

Kleine Nebelbank auf der Ostsee

Ich habe zwar vor vielen Jahren auf Sylt einmal Seenebel erlebt und gestaunt, wie schnell der kam und wie dicht der sein kann, doch heute war der Nebel viel lokaler und manchmal sah man einen Teil der Inseln klar und deutlich, manchmal waren sie komplett verschwunden. Und manchmal war der Nebel dicht, aber so flach, dass die Bäume und der Leuchtturm der Insel Gåsören oben heraus schauten.

Gåsören im flachen Nebel

Bestimmt eine Stunde habe ich mir die Sonne auf den Rücken scheinen lassen und die Inseln verschwinden und wieder auftauchen sehen. Wie gut, dachte ich, dass ich am Kajak immer einen Kompass dabei habe, auch wenn ich ihn bis jetzt noch nie ernsthaft gebraucht habe.

Heute Abend bin ich hingegen faul und schaue DVD, nur für diesen Blogartikel unterbrochen. Eigentlich sollte ich jetzt lieber mit dem Kajak draußen sein, dachte ich gerade, doch höre es keine Minute später draußen Grollen. Ein Gewitter? Sehr schön, dann darf ich auch faul zu Hause sein und DVD schauen.

Noch zwei Fotos von vorhin:

Gåsören bei klarer Sicht

Gåsören wenig später im Nebel verschwindend

Ich als bezahlter Redner

Heute habe ich das erste Mal eine Rechnung für einen gehaltenen Vortrag geschrieben. Klingt toll, oder? Da sollte ich vielleicht dazu schreiben, dass ich 500 Kronen, also 55 Euro in Rechnung stelle. Das reicht noch nicht ganz, um alleinig auf Vorträge zu setzen, glaube ich.

Am Montag war das „Bothnian Bay Marine Forum“, eine Reihe von Boundless Botnian Bay, dem gleichen Projekt, dem ich Anfang Februar als Journalist die Küste entlang nach Oulu in Finnland folgen durfte, in Skelleftehamn. Es war schön, einige Menschen wiederzutreffen, nicht nur Freunde und Bekannte aus Skellefteå, sondern auch die Organisatoren aus Finnland und einen Journalisten aus Spanien, der im Februar auch mit dabei war.

Nach der Begrüßung habe ich eine viertel Stunde darüber erzählt, warum ich hier gelandet bin, es mir immer noch gefällt und ich so ziemlich alle Einheimischen für „hemmablind“ – betriebsblind halte. Der Vortrag ist gut gelaufen und da ich ziemlich am Anfang dran war, konnte ich mich dann bequem zurücklehnen und den anderen zuhören, unter anderem dem phantastischen Bill Taylor aus Schottland, der seit 30 Jahren im Tourismus arbeitet und einen sehr inspirierenden Vortrag über den Tourismus in Schottland gehalten hat. Oh, oh, da haben wir in Nordschweden noch viele Jahre Arbeit vor uns!

Lasse Westerlund hat alle Vortragenden fotografiert und heute habe ich einige Fotos bekommen, die er von mir gemacht hat. Sich selbst auf Fotos in so einer Situation zu sehen ist ähnlich irritierend wie die eigene Stimme als Aufnahme zu hören. Das soll ich sein?! Ich habe die dümmsten Gesichtsausdrücke ausgesucht:

Vortrag #1 (Foto: Lasse Westerlund)Vortrag #2 (Foto: Lasse Westerlund)Vortrag #3 (Foto: Lasse Westerlund)Vortrag #4 (Foto: Lasse Westerlund)

Nächstes Mal muss ich mich unbedingt auf Video aufnehmen. Das wird zwar kein reines Vergnügen sein, sich so von außen zu sehen, aber man kann glaube ich eine Menge über sich selbst lernen.

Um fünf war der offizielle Teil vorbei und wir sind bei schönstem Sommerwetter vom Maskinhuset das kurze Stück herüber zur M/S Stormvind herübergelaufen, einem Schiff, welches fest verankert in Skelleftehamn liegt, und haben dort ein sehr leckeres Abendessen bekommen, während draußen die Segelboote den Wind auf dem Sörfjärden nutzten. Dort war ich gerade einige Tage zuvor mit dem Kajak unterwegs gewesen. Nach einem leckeren Eis mit Moltebeeren als Nachtisch war Aufbruch und wenige Minuten später war ich wieder zu Hause. Es hat sich definitiv gelohnt, den halben Tag frei zu nehmen.

Segelboote auf der Bucht

Die Schlauchbootsaison beginnt

Wenn es wärmer wird, dann ist es ein beliebtes Hobby vor allem der Jugendlichen, sich im Schlauchboot langsam den Skellefteälven hinabtreiben zu lassen. Gerne mit Dosenbier. Und ja nicht rudern oder so etwas uncooles – chillen ist angesagt.

Flussabwärts treiben lassen

Ist es erst richtig Sommer und richtig warm, dann nehmen die Jugendlichen auch gerne Kinderplanschbecken, in die sich sich mit Badehose oder -anzug bekleidet zu zweit oder dritt hinein hocken. Da Planschbecken nicht unbedingt für so etwas gebaut sind, verlieren die meisten unterwegs Luft, reissen oder brechen unter dem Gewicht zusammen. Macht ja nichts, dann schwimmt man eben an Land.

Jetzt am langen Wochenende soll es bis zu 25 °C warm werden und ich freue mich schon darauf, erstmalig dieses Jahr wieder im T-Shirt zu paddeln. Das bedeutet, dass ich nicht weit rauspaddeln kann, denn das Wasser ist ja noch schweinekalt, daher wird das vermutlich wieder eine Flusstour oder ein Stückchen die Küste entlang.

Langes Wochenende? Warum? Am Freitag, den 6. Juni ist schwedischer Nationalfeiertag. Aber im Gegensatz zu dem norwegischen Pendant kümmert es die meisten Schweden nicht so wirklich und kaum einer hier käme auf die Idee, Flaggen schwingend durch die Innenstadt zu laufen. Statt dessen geniessen einfach alle den freien Tag und das werde auch ich tun.

Stille Reise durch die helle Nacht

Habe ich das selbst erlebt? Heute kommt es mir so unwirklich vor, wie geträumt. Doch die Bilder meiner Kamera zeigen mir, es war wirklich. Denn Träume kann man nicht fotografieren, oder?

Heute ist Feiertag. Ausschlaftag. Das hatte ich auch nötig, denn gestern habe ich nach der Arbeit eine Paddeltour gemacht. Abends um acht setze ich mein Kajak ins Wasser und paddele los. Schnell sehe ich, was ich schon wusste: Wir haben extrem niedrigen Wasserstand, schon seit Tagen, und überall schauen Steine und Kiesbänke hervor, wo sonst nur Wasser zu sehen ist. Schnell bin ich auf dem Kallhölmsfjärden, wo gerade die Baus, der kleine Eisbrecher am Hafen anlegt. Ich fahre durch den „Kejsar Ludvigs kanal“, wo ich zwar einige Seeschwalben aufscheuche, doch sie fliegen nur auf und fliegen keine Scheinangriffe auf mich. Vermutlich haben sie noch keine Eier gelegt. Fährt man den Kanal entlang, so hat man links und rechts Hafen und Industrie mit jeder Menge „Zugang verboten“-Schilder. Ist man aber erst unter den Brücken hindurchgepaddelt, öffnet sich die weite Ostseebucht „Sörfjärden“ und man erblickt nur noch Natur, gespickt mit ein paar Häusern hier und da.

Auf dem „Kejsar Ludvigs kanal“Auf dem Sörfjärden

Ich halte mich in Richtung Südwesten, denn ich möchte südlich der Insel Örviken entlangpaddeln. Die erste sichtbare Landmarke ist die alte, verfallene Seebrücke vor der Insel. Links hinter mir liegen die Inseln Kalkgrundet, Örgrunden und Prästhallan. Die roten Sommerhäuser leuchten in der Abendsonne.

Die alte Seebrücke vor ÖrvikenKalkgrundet, Örgrunden und Prästhallan

Ich paddele weiter. Rechts liegt die kleine Ortschaft Örviken und die bunten Häuser spiegeln sich im glatten Wasser. Links sehe ich den Sundgrundsleden, die Straße zur Europastraße E4. Geradeaus sehe ich nicht viel, denn selbst mit dunkler Sonnenbrille blendet die sich im Wasser spiegelnde Sonne ziemlich.

ÖrvikenSüdlich von Örviken

Zwei Brücken führen über die Bucht und ich entscheide mich für den kleinen Tunnel geradeaus, um auf die andere Seite zu kommen. Nun entdecke ich Neuland, denn hier war ich bisher weder mit dem Kajak noch zu Fuss. Die Karte verrät mir, dass ich gut drei Kilometer geradeaus paddeln muss, um dann nordwärts in den Norra Innerviksfjärden abzubiegen. Rechts hat sich das Wasser weit zurückgezogen und zeigt weite Sand- und Schlickflächen, teilweise von Schilf bewachsen. Vor mir sind viele, runde Grasinseln, die aus dem Wasser schauen.

Unter dem SundgrundsledenGrasinseln im Feuchtgebiet

Gerne würde ich an Land gehen, um dort das halb verrottete Holzschiff zu fotografieren, doch der Boden ist so schlammig, dass ich lieber weiter paddele. Ich klappe mein Steuerruder hoch, denn zum einen ist das Wasser so flach, dass das Ruder aufsetzt, zum anderen sind manche Teile dicht mit Wasserpflanzen bewachsen. Die Sonne beginnt, unterzugehen und taucht die schöne Landschaft in warmes Dämmerungslicht. Alte Schilfstengel spiegeln sich auf der glatten Wasseroberfläche und scheinen geheimnisvolle Schriften aufs Wasser zu zaubern.

UnterwasserdschungelGeheimnisvolle Schilfschrift

Ein Stück noch und ich bin am Eingang zum Norra Innerviksfjärden, gerade noch rechtzeitig, um die pinkrote Sonnenscheibe hinter den fernen Bäumen untergehen zu sehen.

Sonnenuntergang über dem Norra Innerviksfjärden

Die Vögel finden es mäßig lustig, dass ich hier mitten in der Nacht auftauche. Große Möwenschwärme stieben vom Boden auf, Enten und Gänsesäger machen sich von dannen und auch die zwei Kraniche flüchten, lange bevor ich in deren Nähe bin. Die Echos ihrer lauten Rufe hallen noch Sekunden nach. Ich biege in die Bucht ein und vor mir breitet sich eine wunderbare Landschaft aus. Über dem von kleinen Inseln durchsetzten Wasser steigt weißer Nebel auf und alle Sonnenuntergangsfarben spiegeln sich auf der ruhigen Wasseroberfläche. Ich habe ein wenig schlechtes Gewissen den Vögeln gegenüber, für sie bin ich nur ein überflüssiger Störenfried, doch so schön ist es, hier durch die warmen Farben zu paddeln, so schön.

Abenddämmerung über dem Norra Innerviksfjärden

Aufgescheuchte Vögel – schade, ich tue Euch doch nichts

Ein bisschen Sorgen macht mir der Wasserstand. Das Wasser wird immer flacher und immer häufiger versinkt das Blatt des Paddels im Schlick. Vor mir sehe ich mehr und mehr Untiefen und Schlickbänke. Wo es am Besten weitergeht, kann ich nicht sehen, weder auf der Karte noch in natura, denn im Kajak sitzt man ja tief. Also vorwärts.

Irgendwann ist es soweit. Ich stecke fest. Zwei Möglichkeiten habe ich: Entweder rückwärts aus dem Schlick herausstaken oder weiter, wie auch immer. Ich entscheide mich für die Weiterfahrt, denn den halben Tag habe ich schon die Rundtour geplant und will mich durch Kleinkrams wie niedriges Wasser nicht aufhalten lassen. Also steige ich aus und versinke wie schon geahnt im Schlick, aber nicht sehr tief. Die Bandschlinge, an der ich sonst die Kamera sichere, binde ich am Bug fest und kann so das Kajak recht bequem durch Flachwasser und über Schlickbänke bugsieren. Manchmal ist der Schlick knietief, manchmal recht gut begehbar. Die nächste Zeit bin ich damit beschäftigt, aus- und einzusteigen. Mal paddele oder stake ich durch das flache Wasser, manchmal ziehe ich mein Kajak hinter mir hier. Anfangs versuchte ich noch, mich notdürftig zu säubern, ehe ich wieder ins Boot steige, doch das ist aussichtslos, wenn das zweite Bein noch knietief im Matsch steckt. Irgendwann ist das alles egal, der Trockenanzug hält eh dicht und bald sehen Kajak und ich aus wie Sau.

Der Himmel ist inzwischen graublau und die Landschaft wirkt seltsam unwirklich und farblos in dem neblig-diffusen Licht. Ich bin froh, irgendwann rechts ein paar Häuser im Nebel auftauchen zu sehen, ein Zeichen mehr, dass ich richtig bin. Und irgendwann bin ich auch am Ende der Bucht. Vor mir sehe ich nur Schlammflächen, sonst nichts. Wo, bitte schön, soll denn da der Kanal sein, der mich wieder zum Fluss Skellefteälven bringen soll. Ist der überhaupt befahrbar? Oder nur ein Rinnsal zwischen Fels und Stein. Komme ich da weiter? Es hilft nur eins: Ausprobieren! Ein hoffentlich letztes Mal steige ich aus dem Kajak und versinke mit dem linken Bein so tief im Schlamm, dass ich fast aus meinem Gefährt herausfalle. Hier ist der Schlamm quasi bodenlos und bis zum Bauch stecke ich im Schlick. Ich stütze mich auf das Kajak, um nicht noch tiefer einzusinken. Hier zu Fuß zu gehen brauche ich erst gar nicht zu versuchen, aber das rettende Ufer scheint so nah. Was tun? Ausprobieren! Letztendlich laufe ich dann auf Knien weiter, wobei ich mich abwechseln auf das Kajak stütze, um nicht zu tief einzusinken und dann wieder das Kajak zwei Meter weiter nach vorne schiebe. Doch bald bin ich aus dem Gröbsten raus und auf der großen Schlickbank wird zum Glück der Boden bald so fest, dass ich einfach wieder laufen kann. Ich stehe und ruhe mich aus. Mein Puls ist irgendwo bei 180. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen.

Bis zum Bauch im SchlammEndlich an Land

Bald habe ich den Kanal gefunden und auch eine Stelle, wo ich das Kajak ins Wasser und mich ins Kajak setzen kann. Erst ist das Wasser noch flach, doch bald kann ich entspannt den zehn Meter breiten Kanal entlang paddeln. Mitternacht dürfte inzwischen vorbei sein und ich merke, dass ich müde werde. Vor mir schwimmt etwas, doch was? Ein runder Kopf, ein Hintern, ist das etwa ein Biber? Ja, tatsächlich, in dem Kanal tummeln sich mehrere Biber, die von Ufer zu Ufer schwimmen. Toll, ich habe noch nie Biber gesehen, und dann jetzt vom Kajak aus! Ich gleite langsam voran und habe bald zwei Biber vor mir her schwimmen. Sie lassen mich erstaunlich nahe kommen, ehe sie mit einem lauten Platsch ihres breiten Schwanzes abtauchen. Einmal platscht es direkt neben meinem Boot, da hat wohl ein Biber gerade auftauchen wollen und mich gesehen. Ich frage mich, wer sich wohl mehr erschreckt hat? Ich könnte noch lange den Bibern zuschauen, doch ich beginne zu frieren und paddele bald weiter. Bei den Biberfotos kam die kleine wasserdichte Nikon an ihre Grenzen, aber eine nette Erinnerung sind die Fotos dennoch.

Biber voraus!

Biber SteuerbordPlatsch und weg ist der Biber!

Ich paddele den sich windenden Kanal entlang. Eine schöne Abwechslung für mich, der sonst immer nur auf der Ostsee unterwegs ist. Bald sehe ich ein Boot, die ersten Häuser, Zivilisation. Aber auch einen großen Igel, der gerade im Gesträuch verschwindet. Der Kanal mündet bei „Stackgrönnan“ in den Fluss Skellefteälven. Das ist wieder eine kleine neue Welt meiner heutigen Paddeltour, diesen breiten Fluss entlang zu gleiten. Von mir aus könnte die Strömung gerne ein bisschen schneller sein, das meiste muss ich doch selbst paddeln und inzwischen bin ich müde und auch ein bisschen fertig von der nicht ganz planmäßig verlaufenden Tour. Kurz vor dem Bootsmuseum lege ich an, steige einmal ins tiefe Wasser, um mich notdürftig ein bisschen zu säubern und wechsele dann mein nass geschwitztes Unterhemd gegen ein trockenes T-Shirt und ein warmes Fleece. Eine Wohltat! Wie gut, dass ich immer meine eher warmen Wechselklamotten im Kajak spazieren fahre, jetzt habe ich sie wirklich einmal brauchen können.

Auf dem SkellefteälvenUmziehpause bei Stackgrönnan

Bald sitze ich wieder im Kajak, um ein Fleece wärmer und eine Banane satter. Auch der Skellefteälven führt wenig Wasser und ich sehe mitten im Fluss Steinhaufen, wo sonst nur Wasser zu sehen ist. Der Himmel färbt sich wieder, denn es ist inzwischen nach eins. Um halb drei wird die Sonne aufgehen. Doch ich mache weniger Photos, nicht nur weil das Objektiv in der feuchtkalten Luft dauern beschlägt, sondern auch, weil ich müde bin. Was freue ich mich auf eine warme Dusche. Weiter geht es den Fluss hinab und bald ist die große Brücke in Sicht. Von da aus ist es dann nicht mehr so weit.

Morgendämmerung über dem Fluss

Felsbänke im niedrigen SkellefteälvenDie Brücke in Sicht: Endspurt

Eine letzte Untiefe, ein letztes AussteigenMeine Gedanken? Das weiß ich nicht mehr. Ich döse vor mich hin. Auto hätte ich nicht mehr fahren können. Ich mache inzwischen mehr Pausen, meine Hände sind nass und aufgeweicht, die rechte Schulter tut weh und die Kondition hat sich schon schlafen gelegt. Doch irgendwann bin ich unter der Brücke durch, am Schiff M/S Stormvind vorbei, am Bootshafen vorbei in der Bucht Kurjoviken. Nur vor dem Tunnel muss ich ein letztes Mal aussteigen, um das Kajak über den fast wasserfreien Grund zu tragen. Noch ein letztes Stück und der Ehrgeiz packt mich. Mit allem, was die restliche Kondition hergibt, paddele ich über den Kallholmsfjärden zurück. Rechts liegt die Baus. Habe ich den Eisbrecher wirklich heute anlegen gesehen, ach nein, das war ja gestern, vor sechs Stunden. Um viertel nach zwei lege ich wieder an, schnalle mein Kajak auf den kleinen zweirädrigen Bootswagen und laufe, so wie ich bin, nach Hause. In den Neoprenstiefeln schwappt das Wasser, der Trockenanzug strotzt vor Dreck, egal – um diese Zeit sieht mich eh keiner.

Zu Hause dusche ich gleich zwei Mal. Einmal mit Anzug, damit der wieder sauber wird, dann ich. Als ich mich ins Bett lege, ist es schon wieder taghell.

War das eine verrückte Idee, so eine Tour zu machen? Ich habe keine Ahnung, vielleicht war es eine. Aber die vielen Erlebnisse – komprimiert in unter sieben Stunden Tour – möchte ich nicht missen. Verrückte Ideen sind manchmal auch gute Ideen.

Heißkalt

Am Freitag vor drei Tagen: 27 °C und Sonne. Heute am Montag: 6 °C und Regen. Der Freitag gefiel mir ehrlich gesagt besser.

23. Mai, 15:5026. Mai, 11:50

Die Screenshots stammen von der iOS-App AeroWeather Pro.

Nachgedanken

Was war das für ein schönes Frühjahrskonzert: Wir im Chor haben eigentlich ziemlich gut gesungen und es war toll, mit Margareta Bengtson, die 22 Jahre bei der Real Group gesungen hat und dem phantastischen Jazzpianisten Mathias Algotsson Musik machen zu dürfen. Doch mein größtes Vergnügen war es, den beiden bei ihren unglaublich schönen, geschmack- und phantasievollen Duoimprovisationen zuhören zu dürfen. Und doch …

Als ich im Auto durch den prasselnden Regen nach Hause fuhr, war ich ein bisschen melancholisch. Mathias Algotsson hat 1992-96 an der Musikhochschule in Stockholm studiert. Ich habe 1992-96 an der Folkwanghochschule in Essen Musik studiert. Er ist ein wirklich guter Jazzpianist, besser als ich es jemals war. Und ich frage mich, ob ich dieses Niveau hätte erreichen können. Eine Stimme in mir sagt, ja, das hätte ich geschafft. Doch mein musikalisches Potential und die musikalische Begabung habe ich nie wirklich ausgeschöpft, dazu war ich oft zu zweifelnd und manchmal auch zu faul. Vor allem gibt es so viele andere Dinge, die mich nicht nur interessieren, sondern auch erfüllen. Und die skandinavische Natur ist ein großer Teil davon. Sie vermittelt mir Ruhe und Stille und gibt mir gleichzeitig Kraft und Energie. Hätte ich mich auf mein Jazzpianisten-Dasein fokussiert, wäre ich vermutlich nie in Skandinavien gelandet und definitiv nie, nie in den Norden gezogen. Das würde mir fehlen. Und doch …

Sie fehlt mir, die Musik. Ich beginne, meine Musikervergangenheit zu verklären und zu idealisieren und die doofen Hintergrundsjobs zum Chefetagen-Smalltalk, die desinteressierten Klavierschüler und die eher angespannte finanzielle Lage zu verdrängen. Nein, es war selten erfüllend, als Jazzmusiker zu arbeiten, auch wenn das immer so toll „hip“ klang, wenn man nach dem Beruf gefragt wurde. Es gab schließlich gute Gründe, warum ich den Beruf gewechselt habe und ich kann mir nicht vorstellen, jemals wieder ein Hundert-Prozent-Vollzeitmusiker zu sein. Und doch …

Ich möchte, ich will, nein, ich glaube sogar, ich muss wieder einen Weg zur Musik finden. Meinen Weg zu meiner Musik. Und ich glaube, es ist jetzt dran. Denn die Sehnsucht nach musikalischer Kreativität hat schon ein paar Mal laut an die Tür geklopft. Heute habe ich die Tür einen Spalt aufgemacht und sie hat einen Fuss dazwischen gestellt. So eine Tür lässt sich nur mit Gewalt wieder schließen.

Vor zwei Monaten habe ich gedacht: „Ich lebe im schönen Nordschweden, habe Freunde, Job und Haus mit Flügel. Alles läuft, alles ist gut. ——— (mittellange Pause) ——— Und jetzt? Was kommt jetzt? Wo geht jetzt die Reise hin?“

Vielleicht habe ich heute mein nächstes Puzzleteil für mein Leben gefunden.

Zwei Mal Wahl

„Soll die Kommune Skellefteå die Zentrumsbrücke bauen?“Ich komme gerade von „Rotan“ wieder, dem heutigen Wahllokal. Zwei Wahlen fanden heute statt: Zum einen die Europawahl, zum anderen die kommunale Wahl, ob die neue Zentrumsbrücke gebaut werden soll. Ratet mal, welches Thema hier in den letzten Wochen komplett ignoriert und welches erhitzt diskutiert wurde.

Interessant an den schwedischen Wahlen: Man kann geheim wählen, man muss es aber nicht wirklich, denn es gibt Zettel, auf den die Partei (mit ihren Kandidaten, für die die Personen wählen wollen) schon draufsteht und genauso gab es Wahlzettel zum Thema Zentrumsbrücke, auf denen schon JA oder NEJ draufstand. Vor vier Jahren fand ich das noch seltsam, inzwischen finde ich das praktisch.