Von der Kunst, einen Arzttermin zu bekommen – Teil II
Dieser Artikel ist eine Fortsetzung vom Artikel „Von der Kunst, einen Arzttermin zu bekommen“, den ich vor sechseinhalb Wochen am 24. August schrieb.
„Nächste Woche wird sie mich wohl zurückrufen“ schrieb ich im Artikel. Die Betonung liegt auf dem Wörtchen „wohl“, ich höre nämlich nichts von ihr. Nach einer Woche melde ich mich bei der Rezeption, sie will die Ärztin an den Rückruf erinnern. Nach einer weiteren Woche melde ich mich wieder bei der Rezeption, sie will die Ärztin an den Rückruf erinnern. Dieses Mal kommt er.
Was ich erfahre ist nicht gerade erbaulich: Ich könne ja Nasentropfen nehmen (aha?). Und es gebe ja auch Mittel, die gegen Depression eingesetzt werden. (was!?) Ich hab’s am Ohr, liebe Ärztin, an Depression leide ich nicht. Auf meinen Kommentar, dass ich nicht vorhätte, Medikamente ohne jegliche Diagnose zu nehmen, bekomme ich keine Antwort. Meine einzige Chance bleibt: Jammern und übertreiben. Es hilft nicht wirklich, aber schließlich stellt sie mir widerstrebend eine Überweisung zum HNO-Arzt aus und legt mit dem Kommentar, man würde sich melden, das könne aber dauern, auf.
Ich höre von einem Schweden, dass man Antidepressiva gerne für und gegen alles mögliche verschreibe. Mehrere andere beschreiben das System als darauf angelegt, die Patienten abzuwimmeln und sich vom Leib zu halten. Ich beginne mich zu fragen, ob es da einen Zusammenhang gibt.
Einen Fehler habe ich gemacht: Ich habe nicht gefragt, was „könne aber dauern“ bedeutet. Wiederum eine gute Woche später rufe ich wieder bei der Vårdcentralen an. Dort erfahre ich dann, dass man versuche, den Leuten innerhalb von drei Monaten (!) einen Termin zu geben. Mein Kommentar, dass ich Musiker sei, perlt an meinem telefonischen Bürokraten-Gegenüber ab: Ich sei als nicht eilig eingestuft. Eine interessante Aussage, denn eine Diagnose habe ich ja immer noch nicht. Immerhin ringe ich der Abwimmel-Angestellten eine weitere Telefonnummer ab.
Sauer bin ich. Und sauer schimpfe ich auf Facebook über das unmögliche Gesundheitssystem hier. Die Reaktion der Schweden ist recht verhalten, doch so mancher andere Einwanderer kommentiert und schreibt über seine ebenfalls schlechten Erfahrungen. Es scheint so, dass dieser Teil der nordschwedischen Wirklichkeit qualitativ bei weitem nicht mit den Systemen in anderen europäischen Ländern mithalten kann.
Die weitere Telefonnummer führt mich über Umwegen und einer noch weiteren Nummer ins nächste Dickicht der Telefonsysteme, die leider gerade keine Zeit für mich haben. Da es meinem Ohr etwas besser geht, gebe ich das Ganze auf. Wird schon!
Chorprobe am Dienstag. Mein Ohr ist halb dicht, es pfeift und die Musik tut weh. Um acht verlasse ich die Probe und bin frustriert. Am nächsten Morgen rufe ich gleichzeitig die Vårdcentralen und die HNO-Klinik an, dieses Mal rechtzeitig genug, dass beide Systeme einen Rückruf versprechen.
Rückruf eins: Vårdcentralen. Mein Kommentar, es sei schlimmer geworden, interessiert überhaupt nicht. Mein Kommentar, dass dies für mich bedrohlich sei als Musiker, sowohl was das Finanzielle als auch die Lebensqualität angehe, ebenso wenig. Ich sei Prio 3 (drei Monate) und für Anfang November vorgemerkt.
Vårdcentralen, so darf man nicht mit Hilfesuchenden umgehen!
Rückruf zwei: Die HNO-Klinik, die tatsächlich damals eine Überweisung bekommen hat, aber – man merke auf – mich für Anfang Dezember vorgemerkt hat. Also hat die Frau von der Vårdcentralen sich geirrt oder mich schlichtweg angelogen. Auch mein Hinweis, dass die Probleme schlimmer geworden sind, interessieren hier ebenso wenig. Nun mache ich Stunk! Ergebnis: Ja, jemand könne mich ja zurückrufen, höre ich. Und kann fast die Gedanken lesen: Aber glaube nicht, dass das etwas nützt.
Da fällt mir wieder die Zusatzversicherung ein, die mein Arbeitgeber „Hello Future“ für mich abgeschlossen hat und ich rufe die Servicenummer an.
Schon wenig später hebt jemand ab.
Ein Mensch.
Die Frau am Telefon hört mein Problem an und signalisiert sofort Hilfe. Leider gibt es hier keinen HNO-Arzt, mit dem sie zusammenarbeiten, ich weiß ja schon, dass der nächste in Sundsvall ist, also 400 Kilometer Busreise. Da sage ich, da sei ich ja schneller in Stockholm und während ich noch darüber rede, dass ich dann ja den Flug und …
… unterbricht mich die Frau und sagt, es wird alles organisiert und bezahlt. Und ich bekomme für Freitag einen Arzttermin in Stockholm. Wartezeit zwei Tage statt drei Monate oder mehr.
Wenig später bekomme ich einen Anruf und man fragt mich nach meinen Flugwünschen. In Ruhe bekomme ich Vorschläge und suche die beste Verbindung aus. Dann bietet man mir Taxifahrten an: Von mir zu Hause zum Flugplatz, vom Flughafen Arlanda in die Stadt. Alles bezahlt. Doch die Taxifahren schlage ich aus, das finde ich doch ein bisschen übertrieben, denn hier kann ich das Auto nehmen und in Stockholm den Flugbus. Ich bedanke mich leicht euphorisch und lege begeistert auf.
Wenig später kommt eine SMS mit allen Informationen für den Arztbesuch, gefolgt von einer weiteren mit allen Buchungen für Flug und Flugbus. Als ich heute morgen einchecke, sehe ich, dass Business-Class gebucht wurde.
Also fliege ich morgen 700 Kilometer nach Stockholm zu einem Arzttermin, weil ich hier in Skellefteå keinen in akzeptabler Zeit bekomme. Eine verrückte Welt!
11 Kommentare für „Von der Kunst, einen Arzttermin zu bekommen – Teil II“
Annika schreibt:
Ja, das ist echt verrückt…Habs Dir ja schon erzählt: eine Kollegin von mir hat neulich hier in Deutschland in der Ambulanz einen Schweden nach drei Stunden Wartezeit behandelt. Das Team entschuldigte sich für die Verzögerung und bat um Verständnis. Der Schwede war völlig platt, weil er so schnell noch nie bis zu einem Arzt vorgedrungen war (12h Wartezeit nach einem Armbruch).
Viel Erfolg morgen!!!!
Hannah Karlsson schreibt:
Das ist schon ZIEMLICH krank…
Sandra schreibt:
Krass…. ich freu mich aber für dich, dass du endlich einen Termin erhalten hast und bald eine Diagnose erhältst! Wie lange kann das wohl noch mit der Finanzierung so weitergehen…?
In der Schweiz ist die Krankenversicherung obligatorisch, doch von jedem selber abzuschliessen, resp. zu finanzieren. Mit Franchisen, (mind. CHF 300.- bis max. 2’500.- plus zusätzl. 10 % der Kosten, max. aber CHF 700.- alles pro Jahr / je höher die Franchise desto geringer die monatl. Prämie) ist unser Gesundheitssystem für die Versicherten ganz schön kostspielig…….
Mit der mind. Franchise (Selbstbeteiligung) plus die 10% hat jeder, wirklich jeder mind. CHF 1’000.- von den Kosten selber zu tagen! Natürlich steigen die Prämien jährlich an, gerade jetzt ist wieder „Krankenkassenzeit“ und man sieht sich nach der günstigsten Möglichkeit um, denn: Leistungen bei den Grundversicherern sind überall dieselben, die Prämien jedoch nicht!!! Zeit für einen Wechsel hat man jeweils bis ende November, gültig ist er dann per 1. Januar vom Folgejahr…
Du siehst, es scheint in Schweden zwar aufwendiger zu sein, einen Termin zu erhalten, was ja sehr ärgerlich sein kann, wie in deinem Fall, aber immerhin wird der Geldbeutel mehr verschont….
Gute Besserung für dein Ohr!
Ricarda schreibt:
Wahnsinn !
Ein Glück daß Du diese Zusatzversicherung hast !!
Drücke Dir ganz fest die Daumen, daß sich für Dein Ohr nun alles zum Guten wendet.
Und schon mal ein schönes Wochenende :)
Jonas schreibt:
Huih, heftig.
Da weißt du jetzt wofür so eine Zusatzversicherung gut sein kann! Super das so etwas funktioniert, aber schon wirklich krass das man 700km zum Arzt anreisen muss.
Viel Glück und gute Besserung deinem Ohr!
Olaf Schneider schreibt:
Vielen Dank für Eure guten Wünsche. Jetzt sitze ich im Sophiahemmet und warte, dass ich drankomme – eine viertel Stunde noch.
@Annika: Ja, es ist eine andere Welt. Hier in Schweden ist man um einiges geduldiger und ich würde fast sagen, schicksalsergebener. Sozusagen die nordische Variante von „Que Sera, Sera“.
@Hannah: Ja, das ist es.
@Sandra: Es ist einfacher, das schwedische staatliche System, aber man fällt auch leichter durch. Daher bin ich über die Zusatzversicherung, die Hello Future für uns alle abgeschlossen hat, mehr als froh.
@Ricarda. Danke und auch Dir ein schönes Wochenende.
@Jonas. Ja wirklich. Ich komme mir vor als müsste man mich aus tiefstem Dschungel in die Zivilisation fliegen. Dabei hat Skellefteå sogar ein Krankenhaus und HNO, aber weder genug Ärzte, noch ein funktionierendes System.
Sylvia schreibt:
Das ist schon ein dicker Hammer, was Dir da widerfahren ist – das hätte ich in einem Land wie Schweden nicht für möglich gehalten. Geduld hin oder her, für mich fällt das eher unter Fahrlässigkeit und Verantwortungslosigkeit.
Olaf Schneider schreibt:
@Sylvia, ich habe auch vor, mit dem Landstinget zu sprechen. Auch hier scheint einiges an Betriebsblindheit zu herrschen, denn nicht wenige Schweden glauben, sie hätten das beste Gesundheitssystem der Welt!
Pia schreibt:
Lieber Olaf,
nun bin ich echt geschockt: DREI Monate wollte man Dich warten lassen?
Bei einem potentiellen Hörsturz geht es schließlich um Stunden, sonst ist man evtl. ewig taub auf dem Ohr! Und Tinnitus ist nach drei Monaten auch schon fast chronisch im Kopf gespeichert.
Ich glaube, ich wäre nach drei Tagen schon auf eigene Kosten nach Stockholm geflogen, um zu retten, was zu retten ist. Gesundheitsschäden abzuwehren ist mir (inzwischen ;-) ) alles Geld der Welt wert.
Aber zum Glück ist Dir ja noch Deine Zusatzversicherung eingefallen! Toller Service von denen!!
Matthias schreibt:
Hej Olaf,
Mich würde interessieren, was du da für eine Versicherung hast (Gesellschaft / Name) und ob du die empfehlen würdest :)
Danke & LG
Matthias
Olaf Schneider schreibt:
@Matthias, die Versicherung hat mein Arbeitgeber für mich abgeschlossen, als Privatperson bekommt man die nicht. Empfehlenswert finde ich sie auf jeden Fall.
Schreibe mir eine Mail, wenn Du mehr wissen möchtest.
P.S.: Oh, hallo Pia, leider habe ich nie auf den Kommentar geantwortet. Sorry.