Über das Meereis – zwischen Angst und Faszination
Um Punkt fünf ging heute die Sonne auf. Da habe ich aber noch geschlafen, aber um halb sieben war ich wach, habe schnell gefrühstückt und dann Kamera und Skier geschnappt, denn das Wetter war – wie eigentlich fast den ganzen März schon – herrlich. Die Frühlingssonne schien von einem klaren, blauen Himmel und die -11 °C kühle Morgenluft wurde schon bald auf leichte Plusgrade erwärmt.
Neu ist, dass ich die Skier erst ein Stück tragen muss, denn auch die Nebenstraßen sind eis- und schneefrei und nur die meterhohen Schneewälle an den Straßenrändern zeigen, dass der Winter schneereich war und noch nicht vorbei ist. Doch bald schon habe ich die Skier untergeschnallt, bin den Schnee hochgestiegen und auf dem verharschten Frühjahrsschnee durch den Wald in Richtung See Snesviken gelaufen. Danach musste ich mich ein bisschen durch das Gestrüpp schlängeln, dann stand ich an der Ostsee.
Die Ostsee ist immer noch, so weit das Auge reicht, mit Eis und Schnee bedeckt. Mein Blick fiel auf die Insel Medgrundet, die etwa zweieinhalb Kilometer vom Festland entfernt liegt. Ein schönes Ziel für den heutigen Tag! Vor Medgrundet liegt Själagrundet, kaum mehr als ein flacher Felshügel im Meer. Zwanzig Möwen umkreisten das Eiland. Es ist schön, nach vielen Monaten wieder die Möwen kreischen zu hören.
Wenn es draußen kalt ist, habe ich das Meer meistens für mich alleine, aber heute waren auch andere auf dem Eis unterwegs. Ein Skiläufer mit drei Hunden lief, weit entfernt am südöstlichen Horizont, das Festland entgegen. Hinter der Insel Medgrundet stand ein Skooter, bewährtes Transportmittel der Eisfischer. Und dann, weit, weit draußen auf dem Meer sah ich die ersten Schlittschuhläufer, die mit ihren „Långfärdsskridskor“, Schlittschuhen, bei denen wie beim Langlaufski die Ferse frei ist, in großen Schwüngen über das Eis glitten.
Und nicht weit hinter Medgrundet war das erste Blankeis zu sehen. Im Gegensatz zum milchig-trüben Eis, welches durch gefrierendes Schmelzwasser entstanden ist, ist dieses Eis so klar, dass man teilweise bis auf den felsigen Grund schauen kann. Zahlreiche Sprünge durchziehen das Eis, an denen man sehen kann, dass es mindestens zwanzig Zentimeter dick ist. Also eigentlich kein Grund, beunruhigt zu sein.
Doch die Geräusche, die haben es in sich. Das Meer tönt! Tiefste, sonore Bassklänge scheinen unter dem Eis hin- und her zu wandern. Sie werden immer wieder von peitschenartigen Knallen überlagert, deren tiefe, wummernde Echos sekundenlang nachklingen. Manchmal ist der Knall so stark, dass ich meine, die Vibrationen des Widerhalls unter meinen Skiern spüren zu können. Ich habe den Eindruck, das Meer lebt und atmet in seinem eigenen langsamen Rhythmus.
Ich bin hin- und her gerissen. Ich möchte noch bleiben, weitere Fotos machen und dem Pulsieren des Meeres nahe sein. Ein anderer Teil von mir hat ganz einfach gesagt Schiss! Ich habe Angst, dass das Meer aufreißt und ich mich plötzlich im Wasser wiederfinde oder auf einer Eisscholle sitzend nach Finnland segele. Da nützt es auch wenig, dass ich weiß, dass Eis schon ab 18 cm auch Autos trägt.
Schließlich reiße ich mich los und laufe in einem Bogen weiter. Unter dem schneebedeckten Eis höre ich keine Geräusche mehr, vermutlich ist das Eis älter und noch wesentlich dicker. Doch irgendwo da draußen ist auch die Fahrrinne, denn am Horizont schiebt sich ein großes Schiff südostwärts. Weiter in Richtung Norden ist ein kleiner Leuchtturm zu sehen, da möchte ich noch hin.
Der Leuchtturm ist allerdings weiter als gedacht und steht nicht auf der kleinen Insel Snusan, sondern auf der Insel Kågnäshällan, die noch weiter nördlich, aber fast wieder am Festland ist. Nach drei Kilometern Skilaufen bin ich da. Unterwegs sehe ich immer wieder Eisfischer, Skiläufer und, weit draußen auf dem Blankeis, die Schlittschuhläufer. Die Insel Kågnäshällan ist teilweise schon eis- und schneefrei und auf einem der großen, mit Flechten bewachsenen Felsen mache ich eine kleine Pause.
Dann laufe ich noch ein wenig weiter nach Norden, denn ich bin neugierig, ob dort schon Långhällan liegt, wo ich Mitte Januar schon einmal war, allerdings mit Auto und Schneegestapfe. Es ist tatsächlich Långhällan, so weit war ich noch nie mit Skiern von zu Hause unterwegs und ich fühle mich mächtig sportlich, auch wenn die einfache Strecke nur acht, neun Kilometer sind. (Andere laufen den Vasalauf, das sind 90 Kilometer am Stück!)
Auch bei Långhällan sind schon blanke Felsen zu sehen und eine kleine Kiefer schmilzt sich tapfer durch den tiefen Schnee.
Gerne wäre ich noch weiter gelaufen, doch mein Proviant war begrenzt und so habe ich mich auf den Rückweg gemacht. Anfangs war das Skilaufen noch langsam, denn selbst auf dem flachen Packeis muss man schauen, wo man mit den Skiern am Besten entlangkommt, während die Dinger auf dem blanken Eis in alle Richtungen gleichzeitig wollen, wenn man keine X-Beine macht, um mit den inneren Stahlkanten ein wenig Halt zu bekommen. Doch südlich der Insel Medgrundet war das Eis glatt und schneebedeckt, dort glitten die Skier wieder gut, denn trotz der warmen Sonne war der Schnee immer noch so kalt, dass er nicht unter den Skiern klebte.
Zum Schluss möchte ich noch ein abstraktes Foto zeigen, welches ein bestimmtes Muster im Blankeis, welches ich an verschiedenen Stellen gesehen habe, abbildet. Ich musste dabei an ein bisschen an die abstrakten Bilder meiner Mutter denken, vor allem an Arun 1.
6 Kommentare für „Über das Meereis – zwischen Angst und Faszination“
Annika schreibt:
Die Eisbilder sind irre!
Sandra schreibt:
Wow, schöne Bilder, schöne Landschaft, schönes Miterleben.
Und die Bilder deiner Mutter sind klasse, ich kann so viel darin sehen, Landschaft, Bewegung, Licht im Wasser, Schnee auf Bergtälern…
Olaf Schneider schreibt:
Und am Abend lese ich, dass am gleichen Tag mehr als 200 lettische Eisfischer von abtreibenden Eisschollen gerettet werden mussten. Quelle: Spiegel
Annika schreibt:
Ups…
Sonya schreibt:
Großartige Bilder, ich mag das Foto von den Schlittschuhläufern. Die Angst kann ich gut nachvollziehen. Ich weiß nicht, ob ich mich so weit raustrauen würde.
Olaf Schneider schreibt:
Ich weiß auch nicht, ob ich mich jemals wieder so weit raustrauen werde, denn wenn ich es heute richtig gesehen habe, hörte irgendwo nicht weit hinter Medgrundet das Eis auf und bis zum Horizont erstreckte sich offenes Wasser. Ich muss mich auf jeden Fall mal gründlich mit den Meereiskarten des SMHI beschäftigen.